Eine klare Vision für eine selbstbestimmte Zukunft
Die Iveco Group geht seit Kurzem eigene Wege. Was hat die Marke an diesen Punkt geführt?
Dr. Gerrit Marx: Als ich 2019 zu IVECO kam, war das Unternehmen in einzelne Regionalstrukturen gegliedert. Nach und nach haben wir IVECO als integriertes Geschäft global wieder zusammengeführt. Zu unserer Überraschung ging das auch schneller als erwartet und brachte uns zudem ein enorm positives Momentum im Team. Der Spin-off von CNH Industrial hat das jetzt noch weiter bestärkt. Im technischen Bereich gab es, abgesehen von den Motoren, kaum Synergien zwischen IVECO und den Land- und Baumaschinen. Der Agrarbereich ist sehr regional und saisonal, der Lkw hat praktisch immer Saison, und die Fahrzeuge laufen in ganz Europa. Somit bedarf es zum Beispiel eines grundlegend anderen Service- und Ersatzteilansatzes.
Wo sehen Sie aktuell die größten Chancen der jungen „Selbstständigkeit“?
Jetzt können wir zeigen, welche Innovationskraft und welche Leidenschaft in uns steckt, und wie wir mit den vorhandenen Mitteln Großes leisten können. Das On-Road-Geschäft läuft unter völlig anderen Rahmenbedingungen als der Agrarbereich. Einerseits in Bezug auf Kundenanforderungen, wie etwa Service und Ersatzteile – andererseits durch wesentliche Unterschiede bei Megatrends wie beispielsweise elektrische Antriebe. Die Freiheit, die wir jetzt gewonnen haben, bestärkt uns in unserer Strategie. Ich bin davon überzeugt, dass uns der künftige Erfolg recht geben wird.
Dr. Gerrit Marx, CEO Iveco Group
Wie ist die mittelfristige strategische Entwicklung der Iveco Group?
Wie auch heute schon werden wir mit durchdachten und pragmatischen Innovationen Trends in unseren Segmenten setzen und bei global gesehen deutlich größeren Gruppen weiter Boden gutmachen. Um dieses Ziel zu erreichen und die Weiterentwicklung unseres Produktportfolios voranzutreiben, sind signifikante Investitionen geplant – in alternative Antriebe, ins autonome Fahren und in weitere neue Technologien.
Wie profitieren Kunden künftig davon?
Bis Ende 2023 bieten wir unseren Kunden eines der umfangreichsten Fahrzeugportfolios im Bereich der alternativen Antriebe. Darunter Gasfahrzeuge, die Biomethan-ready sind, sowie batterieelektrische (BEV = engl. „Battery Electric Vehicle“) und brennstoffzellenbetriebene (FCEV = engl. „Fuel Cell Electric Vehicle“) Fahrzeuge. Zudem bauen wir unsere IVECO ON Service- und Transportlösungen beständig aus. Sie sind darauf ausgerichtet, die Produktivität und Gesamtbetriebskosten der Kunden zu optimieren und gleichzeitig für die Sicherheit und den Komfort der Fahrer an Bord zu sorgen.
An welchen konkreten Aufgaben, Innovationen und Services wird aktuell besonders gearbeitet, vor allem im Hinblick auf Kundenorientierung?
Wir arbeiten in einigen Bereichen mit Partnern zusammen, um unseren Kunden künftig nicht nur ein Nutzfahrzeug, sondern eine logistische Gesamtlösung bieten zu können. IVECO ist beispielsweise der erste Lkw-Hersteller, der mit Erlaubnis der Speditionen und Fahrer die Geofence-Daten des Lkw an eine spezifische Plattform weitergibt. Fährt ein IVECO innerhalb des sennder-Verbunds (sennder = Digitalspedition und Partner von IVECO), kann die Disposition prüfen, ob es sich lohnt, unterwegs weitere Ladung aufzunehmen. Rechnet es sich, die eigentlich geplante Route zu verlassen und einen „Umweg“ sowie eine gering verspätete Ankunft in Kauf zu nehmen, wenn sich damit mehr Umsatz und Frachteffizienz realisieren lassen? Bei diesen Entscheidungen ist auch der Fahrer gefordert, das macht ihn noch wichtiger und wertet den Beruf weiter auf. Das ist unsere Botschaft – und nicht der komplett autonome Lkw.
Andere Hersteller investieren in die fahrerlose Zukunft. Warum sieht die Iveco Group das anders?
Die Vernichtung von Millionen Fahrer-Arbeitsplätzen in Europa ist weder ein Geschäftsmodell noch realisierbar. Technisch ist es bislang noch niemandem gelungen, im Güterverkehr Autonomiestufe 5, also ohne Fahrer, zu fahren. Außerhalb des digitalen Schachbretts – damit meine ich zum Beispiel Einsätze mit festen Regeln in Flughäfen, Minen oder mit einem Peoplemover in Innenstädten bei geringen Geschwindigkeiten – gibt es keine Stufe 5. Der Mensch lässt sich nicht ersetzen. Von Sattelaufliegern fallende Schneebretter im Winter oder zerplatzte Insekten auf den Sensoren schränken die Funktionalitäten von Lidar und Radar aktuell noch sehr ein. Stellen Sie sich einen 40-Tonner vor, der in Europa mit 80 bis 90 km/h und in den USA sogar mit 120 km/h ohne Fahrer unterwegs ist und zum Beispiel durch einen Cyber-Angriff außer Kontrolle gerät. Die erste Attacke dieser Art wird diese Technologie auf Jahre von der Straße verbannen. Angesichts der Fahrerknappheit sollten wir daher besser über zielführendere Lösungsansätze nachdenken: Ich spreche hier von einer fairen Bezahlung und vernünftigen Arbeitsbedingungen, um dem Fahrermangel entgegenzuwirken.
Also ist Stufe 5 im Güterverkehr für die Iveco Group kein Thema. Wie sieht es mit autonomen Lkw der Stufe 4 aus?
Das ist auf jeden Fall differenziert zu sehen. Hier arbeiten wir intensiv mit unserem Partner Plus zusammen. Ein Lkw mit Autonomiestufe 4 ist perspektivisch ab 2024 möglich. Die Systeme werden sich zu sehr ausgeklügelten Assistenten entwickeln, die den Fahrer unterstützen und den Beruf attraktiver machen. Stufe 4 wird einen Autopilot-ähnlichen Charakter bekommen. „Hands off, eyes off“ ist dann möglich, aber niemals „brain off.“
Neben autonomen Lösungen stehen alternative Antriebe im Fokus der Aufmerksamkeit. Wie sehen hier die weiteren Pläne aus?
Politik, Kunden und Verlader fordern Nutzfahrzeuge, die sich CO2-neutral betreiben lassen. Im Bereich der leichten, mittleren und schweren Nutzfahrzeuge und bei Bussen bieten wir bereits heute mit unseren bewährten Gasmotoren und durch den Einsatz von Biomethan die Möglichkeit, nahezu CO2-neutral unterwegs zu sein. Im Herbst 2022 launchen wir die zweite Generation des elektrisch betriebenen Daily, und zum Jahresende 2023 starten wir die Auslieferung der europäischen 4x2-BEV- und FCEV-Varianten des Nikola Tre. Weitere Entwicklungen, wie beispielsweise ein Hythan-Motor, der ein Gemisch aus Methan und Wasserstoff verbrennt, kommen noch dieses Jahr auf den Prüfstand.
Zum Thema Nikola fragen sich viele: Wo stehen wir? Wie ist die Planung, und wie geht es weiter?
Seit der Verkündung unserer Partnerschaft mit Nikola im September 2019 haben wir in 100-Tages-Sprints das geschafft, was wir uns vorgenommen haben, samt einer neuen Produktion am Standort Ulm. Den ersten funktionierenden Prototypen haben wir im Mai 2020 vorgestellt und bis heute zum Serienstand weiterentwickelt. Seitdem sind wohl knapp 30 weitere batteriebasierte Vorserienfahrzeuge entstanden und sieben zusätzliche Prototypen mit der Brennstoffzelle. Zudem steht in Coolidge, Arizona, inzwischen die erste Ausbaustufe der Produktion von Nikola. Nikola hat Ende letzten Jahres bereits die ersten zwei BEV an einen Endkunden übergeben – eine Spedition im Hafen von Los Angeles, und die wollen noch mehr. Aktuell bauen wir noch rein batterieelektrische Sattelzugmaschinen. Die FCEV-Variante folgt Ende 2023. Viele Marktbegleiter machen um den immer gleichen Prototyp ein großes Aufheben. Wir sind hier schon ein Stück weiter, kommunizieren das aber absichtlich nicht. In Ulm ist beispielsweise bereits der erste Prototyp des europäischen 4x2 Nikola Tre BEV im Aufbau. Wir sind also weitgehend im Plan, aber natürlich auch durch den Halbleiter- und Batteriemangel beeinträchtigt. Daher haben wir das Orderbuch für Deutschland oder Europa noch gar nicht aufgemacht, wieso auch? Wir liefern erst im Laufe des Jahres 2023 in Europa aus.
Wie war und ist die allgemeine Marktlage und welche Erwartungen haben Sie?
Ich gehe davon aus, dass unsere Neuzulassungen 2022 über dem Niveau von 2021 liegen. Die Auftragsbücher sind für die ersten drei Quartale über alle Baureihen – leichte, mittlere und schwere Lkw sowie Busse – schon ziemlich voll. In der Daily-Fertigung in Suzzara arbeiten wir bereits seit dem letzten Jahr mit einer dritten Schicht. In Madrid, wo unsere schweren Lkw vom Band laufen, evaluieren wir weitere Kapazitäten. Der Blick in unsere Auftragsbücher zeigt, dass wir einem belieferungsdefinierten Markt gegenüberstehen, nicht einem nachfrageorientierten. Wir leben mit Engpässen, vor allem mit Halbleiterengpässen. Wir sind hier auf die Zuteilungen der Zulieferer angewiesen. Das ist auch im Zusammenhang mit Corona zu sehen, weil die Hersteller von Halbleitern ihre Investitionen im Jahr 2020 drosselten beziehungsweise stoppten. Das Thema wird uns als Industrie also 2022 und im schlimmsten Fall auch noch 2023 begleiten.
Zum Abschluss noch eine persönliche Frage: Was ist Ihr Highlight 2022? Worauf freuen Sie sich bzw. was hat Ihnen bisher am besten gefallen?
Da gibt es ein paar tolle Highlights, die sind aber noch in der Mache und geheim. Die IAA wird sicherlich ein wichtiges Ereignis, und davor wollen wir mit den ersten batterieelektrischen Nikola Tre im Hafen Hamburg im Einsatz sein. Zudem stellen wir die völlig neue Generation des elektrischen Daily von 3,5 bis 7,2 Tonnen vor. Viel los bei uns!